Atradius sieht kurzfristig stark steigende Insolvenzrisiken bei britischen Abnehmern, sollte es zu einem ungeregelten Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union kommen. Darauf weist der internationale Kreditversicherer in einer aktuellen Analyse hin. Demnach würde es bei einem so genannten „No-Deal Brexit“ rund 2.300 mehr Firmenpleiten in Großbritannien im Jahr 2020 geben als bei einem geregelten Ausscheiden aus der Staatengemeinschaft. Bereits in diesem Jahr rechnet Atradius mit insgesamt 15.800 Insolvenzen in Großbritannien – ein Anstieg von 4 % gegenüber dem Vorjahr. Auch das Forderungsrisiko in anderen Ländern würde bei einem „harten Brexit“-Szenario steigen. Laut der Atradius Risikoexperten wären besonders Irland, Belgien, Dänemark und die Niederlande betroffen.
„Das Zahlungsrisiko von Großbritanniens Firmen hängt unmittelbar mit dem Ausgang der aktuellen Brexit-Verhandlungen zusammen“, sagt Dr. Thomas Langen, Senior Regional Director Deutschland, Mittel- und Osteuropa von Atradius. „Ohne Abkommen wird der freie Waren-, Dienstleistungs-, Kapital- und Personenverkehr zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU über Nacht zum Erliegen kommen. Die Handelskosten würden erheblich steigen, besonders aufgrund der dann geltenden Zölle. Da rund die Hälfte der Exporte Großbritanniens in die EU gehen, wären die Firmen im Vereinigten Königreich besonders betroffen. Für ihre Lieferanten und Dienstleister wäre das Forderungsrisiko erheblich größer.“
Harter Brexit würde zahlreiche britische Sektoren besonders treffen
Sollte Großbritannien ohne Handelsabkommen aus der Europäischen Union austreten, würde das die gesamte Volkswirtschaft des Vereinigten Königreichs signifikant beeinträchtigen. Atradius geht davon aus, dass sich das Bruttoinlandsprodukt (BIP) auf der Insel bei einem „harten Brexit“ bis Ende 2020 um mehr als 2 % schlechter entwickelt als bei einer Übergangslösung. Die Inflation und die Arbeitslosigkeit würden stark steigen, die Industrieproduktion gebremst werden. In der Folge erhöht sich das Insolvenzrisiko deutlich. Ein ungeregelter Austritt würde laut Atradius schon im Jahr 2020 14 % mehr Firmenkonkurse gegenüber dem von der britischen Regierung vorgeschlagenen Ausstiegsabkommen nach sich ziehen. Umgerechnet müssten voraussichtlich rund 2.300 britische Unternehmen mehr Konkurs anmelden.
Das eingetrübte Geschäftsklima und weniger Unternehmensinvestitionen dürften dann dazu führen, dass die Industrieproduktion bereits 2019 um 2% zurückgehen wird. Das verarbeitende Gewerbe im Vereinigten Königreich macht zwar mit rund 10 % des gesamten BIPs nur einen relativ kleinen Teil der britischen Wirtschaft aus, steht aber für etwa die Hälfte des Ausfuhrgeschäfts des Landes, so dass es besonders anfällig für die dann anfallenden Zölle ist. In der Folge erwartet Atradius hier eine besonders starke Zunahme der Insolvenzen. Andere Sektoren mit hochgradig integrierten Lieferketten innerhalb der EU würden bei einem harten Brexit ebenfalls höhere Insolvenzrisiken aufweisen. Dies gilt insbesondere für den Automobilsektor. Schließlich würden britische Unternehmen auch mit höheren nichttarifären Handelshemmnissen konfrontiert, was schwerwiegende Folgen für stark regulierte Sektoren wie zum Beispiel Firmen der Lebensmittel- und Getränkeindustrie und die Chemiebranche hätte.
Forderungsrisiko in anderen Ländern nimmt ebenfalls zu – aber deutlich moderater
Bei einem ungeregelten Austritt Großbritanniens aus der EU sieht Atradius auch mehrere andere Volkswirtschaften betroffen, insbesondere Irland. Die irische Wirtschaft führt 11 % seiner Exporte nach Großbritannien aus. Besonders im verarbeitenden Gewerbe (44 % der produzierten Güter gehen hier ins Vereinigte Königreich) würden die Folgen in Form eines erhöhten Insolvenzrisikos stark zu spüren sein. Daneben wäre auch der irische Lebensmittelsektor stark beeinträchtigt. Durch die Einführung von Zöllen wäre die Wettbewerbsfähigkeit der Hersteller in Irland gegenüber inländischen Anbietern geschwächt, zudem könnten außertarifliche Handelshemmnisse wie Lebensmittelregulierungen das Geschäft hemmen. Insgesamt geht Atradius von 4 % mehr Insolvenzen in Irland bei einem ungeregelten Brexit aus.
Belgien, die Niederlande und Dänemark weisen ebenfalls eine – im Vergleich zu anderen EU-Staaten – hohe Exportquote in das Vereinigte Königreich auf. Hier sieht Atradius eine Zunahme der Insolvenzen von jeweils 1,5 %, sollte der Ausstieg Großbritanniens aus der EU tatsächlich ohne Abkommen stattfinden. „Bei einem harten Brexit sehen wir auch erhöhte Forderungsrisiken bei einigen europäischen Handelspartnern Großbritanniens. Diese sind im Vergleich zu den Unsicherheiten für Firmen des Vereinigten Königreichs aber moderat“, sagt Dr. Thomas Langen.
Aktuelle Atradius-Analyse zum Brexit
Mehr als zwei Jahre nach dem Votum Großbritanniens für den Austritt aus der Europäischen Union und rund dreieinhalb Monate vor dem angesetzten Ausstiegstermin sind die Modalitäten des Brexit immer noch offen. Je länger die künftigen Handelsbedingungen zwischen dem Vereinigten Königreichs und der EU unklar sind, desto mehr erhöhen sich die Unsicherheiten für Unternehmen im Firmengeschäft bei Ausfuhren nach Großbritannien. Auch das gescheiterte Misstrauensvotum gegen die britische Premierministerin Theresa May in dieser Woche hat keine Gewissheit für Exporteure gebracht, eine Ablehnung ihres Abkommens zum Austritt aus der europäischen Staatengemeinschaft ist weiterhin möglich.
(ots)
Bildquellen
- Harter Brexit: Mehr Insolvenzen in Großbritannien und EU: obs/Atradius