Was glauben Sie, wie die Zukunft der Innenstädte aussieht? Wird das große Ladensterben kommen?
Das Ladensterben ist bereits in unseren Innenstädten angekommen. Vor allem in den Großstädten wie München, Hamburg, Berlin oder Köln können sich die Läden durch steigende Mieten nur schwer halten. Große Ketten verdrängen die Individualität der privat geführten Einzelhändler, Innenstädte werden zu einheitlichen Einkaufsstraßen. Es ist mittlerweile egal, wo wir einkaufen. Die Besonderheiten oder Spezialitäten jeden Landes oder Bundeslandes sind längst nicht mehr besonders. Früher brachten wir bunte Pasta aus dem Urlaub am Gardasee mit, die es nur in Italien zu kaufen gab. Heute können wir die in jedem Supermarkt kaufen. Du brauchst nicht mehr zu reisen, alles gibt es überall. Corona beschleunigt das natürlich noch. Die großen Ketten konnten sich im Lockdown noch querfinanzieren, aber die individuellen Läden hatten es schwer, die Dreifachbelastung durch Corona, die Konkurrenz der Ketten und die hohen Mieten. Viele Händler gingen insolvent. Durch Corona haben die Menschen ein anderes Kaufverhalten entwickelt: Ausgaben für Jogginghosen, Sportsachen und andere Wohlfühlartikel aus dem Bereich Beauty und Wellness gingen durch die Decke. Mode für draußen hat überhaupt nicht mehr stattgefunden. Mein Learning daraus ist, dass wir Mode nicht für uns selbst einkaufen und konsumieren, sondern für die anderen. Es gilt „Be there to shine“
Mit welchen neuen Technologien sollte sich der stationäre Handel auseinandersetzen?
Stationäre Einzelhändler sollten Social Media nutzen, um eine größere Zielgruppe zu erreichen. Es gibt Kunden, die gern von zu Hause aus shoppen und dabei gemütlich auf der Couch liegen und es gibt Kunden, die gerne bummeln gehen und von Laden zu Laden schlendern. Letztere wollen die Produkte in die Hand nehmen und ausprobieren. Ein hybrides Format spricht beide Gruppen gleichermaßen an und zusätzlich diejenigen, die neugierig auf neue technische Möglichkeiten sind. Je mehr Technologie angeboten wird, desto mehr Kunden können erreicht werden. Wobei: Die eine Zielgruppe gibt es ohnehin nicht mehr und auch den Händler, der ausschließlich das anbietet, worin seine Passion liegt, gibt es längst nicht mehr. Stattdessen gehen jetzt alle auf Masse. Ähnlich wie bei einem Restaurant, das neben Pizza noch Döner und Schnitzel anbietet. Angebote gleichen sich an und so tun es auch die Käufe der Kunden.
Außerdem – und das ist ein weiterer Grund, um Social Media zu nutzen –, hat die Pandemie dafür gesorgt, dass das Thema Sicherheit vermehrt im Fokus steht. Das merkt man auch an unserem Kaufverhalten, wir gehen auf Nummer sicher. Wir schauen, was tragen Infleuncer:innen, was nutzen Bloger:innen? Bei neuen Möbelstücken orientieren wir uns an großen, langlebigen Marken, kaufen Mobiliar, das wir auf Instagram gesehen haben und das offenbar der Masse gefällt.
Das ganze Social Media Game wird umso essenzieller, wenn man bedenkt, wie kurz unsere Aufmerksamkeitsspanne mittlerweile geworden ist. In einer schnelllebigen Welt muss auch das Angebot und die Kaufoption schnell sein. Früher haben wir uns drei Monate auf etwas gefreut, heute funktioniert das nicht mehr. Dauert es zu lange, bis wir das gewünschte Objekt in den Händen halten, verlieren wir das Interesse und finden ruckzuck etwas Neues, Besseres. Auch deshalb ist der Wandel zu digital so wichtig: Ich sehe abends auf einer Party ein geiles Shirt, das bestelle ich mir sofort – nicht erst nächste Woche. Per Click probieren wir das Shirt im virtuellen Spiegel an und ordern gleich darauf im Online-Shop. Am nächsten Tag ist es da. In der heutigen Zeit brauchen wir also digitale Technologien, weil wir nicht mehr warten können. In ein paar Tagen habe ich bereits etwas anderes gesehen und will das Shirt nicht mehr. Ein Handel ohne digitale Technik verliert mich als Kunden.
Daher sollte sich der stationäre Handel zu allererst überlegen, was verkauft werden soll und an wen. Er sollte sich Gedanken dazu machen, wie er sich bekannt macht. Über Social Media? Über eine eigene App? Versuche ich eine digitale Verlängerung? Möchte ich ein virtuelles Schaufenster? Und wie verbinde ich mich mit anderen Online-Shops? Sind die ersten Entscheidungen getroffen, steht noch die Frage im Raum, wie kommuniziert werden soll. Facebook, Instagram, LinkedIn? Wo erreiche ich meine Kunden am besten? Dabei gilt: Ich kann keinen größeren Fehler machen, als nicht zu wissen, wo meine Passion und mein Fokus liegt. Wer überzeugen will, muss überzeugt sein.
Stichwort digireale Store-Konzepte: Auf dem Weg vom analogen zum hybriden Store gibt es sicherlich viele Stolpersteine oder? Worauf sollten Händler in jedem Fall achten?
Wichtig ist das ganze Thema Datenschutz und wie verschiedene Länder mit verschiedenen Informationen umgehen. Der Umbau von analog zu hybrid bedeutet vor allem, dass eine große Menge von Daten genutzt wird, um die Customer Experience zu stärken.
In meinem digirealen Store im Lux 11 begrüßt ein Screen die Kunden persönlich am Eingang. Das Handy vernetzt sich beim Betreten des Ladens mit dem Store, analysiert aus einer Datenmenge Name, Kaufverhalten und Vorlieben des Kunden und zeigt ihm nach Sekunden die neuesten Trends, die gefallen könnten oder noch im Kleiderschrank fehlen. Anprobiert wird im virtual Fitting Room, wo wieder Messdaten der Kunden genutzt werden. Wer hier die Datenschutzbestimmungen nicht beachtet, kann echte Schwierigkeiten bekommen. Man sollte also darauf achten, dass man da abgesichert ist.
Außerdem besteht vor allem auf Social Media immer die Gefahr eines Shitstorms, die nicht unterschätzt werden sollte. Je digitaler ein Handel ist, desto angreifbarer ist er. Händler lassen sich auf ein Bewertungssystem ein, sie bekommen bei Fehlverhalten prompt die Rückmeldung der Community. Auch darauf muss man gefasst sein.
Wie kann sich der einzelne Händler neu erfinden und dabei unique bleiben? Haben Sie Tipps?
Händler sollten dem folgen, was sie können und was ihre Passion ist. Natürlich ist es wichtig, im Blick zu behalten, mit was am meisten Umsatz erzielt wird und was gut läuft. Trotzdem sollte das oberste Gebot sein, sich selbst treuzubleiben und seine Leidenschaft einfließen zu lassen. Wir brauchen nicht den nächsten Laden, der alles kann und alles anbietet. Dann wäre es egal, wo wir einkaufen.
Was können Händler in puncto Customer Experience vielleicht noch vom Online-Handel lernen? Wie können sie KI, Algorithmen oder Big Data sinnvoll für sich nutzen?
Nutze ich Algorithmen und KI, kann ich mein Angebot zielgerichtet auf meine Kunden abstimmen. Ich kenne ihr Kaufverhalten und ihren Geschmack. Ich weiß, wonach sie suchen, was ihnen noch fehlt oder was vermutlich auf keinen Fall ihr Interesse weckt. Die Technologie verrät mir Veränderungen im Kaufverhalten meiner Kunden und gibt mir die Möglichkeit, auf eben diese Veränderungen schnell und passgenau zu reagieren. Dadurch bin ich anderen stationären Händlern weit voraus.
Über Sebastian Retz
Sebastian Retz arbeitet seit 20 Jahren als selbständiger Architekt für Business- und Markenprojekte. Als Geschäftsführer von BrandOn! und Mehrwert X Labs, als Partner von Intertrade.Digital, als Kreativ Director von Hörger sowie als Chief Creative Officer von Mavis bietet er Marken jedweder Couleur eine Inszenierung tailormade. Retz entwarf bereits reale, hybride und digitale Leuchtturmprojekte für namhafte Unternehmen wie Tommy Hilfiger oder Mercedes Benz und teilte seine Expertise Interessierten in verschiedenen Fernsehformaten mit. Weitere Informationen unter www.sebastianretz.com
Bildquellen
- Interview mit Sebastian Retz – Store-Konzepte Post Corona: Sebastian Retz